Oberkirchenrat Prof. Mag. Johann Jakob Wolfer - Galizien |
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Kurzgeschichten aus Galizien von Pfarrer Jakob Wolfer
Sterbende
Hoffnung
Das Weihnachtsfest
war vorüber, die Freude verrauscht. Still ging das alte
Jahr seinem Ende zu. Niemand in Hartfeld dachte daran, den Altjahrsabend zu feiern.
Warum auch? Der 31. Dezember 1937 war ein Tag wie jeder andere.
Am Abend gingen jung und alt früh schlafen genau wie
sonst. Lag kein Grund zum feiern vor, so fehlte auch jeder Anlass,
dem sterbenden Jahr nachzutrauern. Dazu hätte es besser
sein müssen. In Hartfeld war das alte Jahr nie so gut,
als dass seine Bewohner nicht Besseres vom neuen erwartet
und erhofft hätten. Das Dorf stand am Sterbebett des dahinscheidenden Jahres wie
ein hartgewordener Mensch am Lager eines lebensmüden
Greises, dessen Stunden gezählt sind, ohne Freude oder
Trauer zu empfinden, nur mit dem gleichgültigen Gefühl:
Jeder Mensch muss einmal sterben.
Als die Hartfelder schliefen, schlug die Uhr zwölf. Letztes
Todesröcheln ging in neuen Lebensodem über.
Lautlos
schlich sich das neue Jahr ins Dorf, auf unhörbaren Sohlen,
um niemanden zu wecken. Aber die Kartrin-God, die schlaflos
dalag, merkte es doch. Die zwölf Schläge der alten
Pendeluhr hatten sie hellhörig gemacht. Mit weitgeöffneten
Augen blickte die alte und lebensmüde Frau dem Ankömmling
entgegen und empfing ihn mit vielen Hoffnungen und Wünschen.
Nicht für sich, denn dazu war sie schon zu alt, nur für
ihre Kinder und Kindeskinder. Schweren Herzens dachte sie
an die elf, denen sie das Leben geschenkt hatte. Für
fünf hatte der Herrgott gut gesorgt und sie frühzeitig
zu sich genommen. Die anderen sechs mussten schwer um das
tägliche Brot ringen und hatten nie mehr als das, ja
das oft nur spärlich, trotzdem sie stets fleissig und
sparsam waren. Nach dem Weltkrieg gab es kein Fortkommen mehr.
Aber diese Sorgen verblassten als die alte Katrin-God an ihre
zahlreichen Enkel dachte. Was sollte aus ihnen werden? Aus
dem Jakob und Gustav, dem Johann und Wilhelm? Was aus der
Thilde und Lina? Heinrich, der jüngste Enkel aus ihrem
Hause, sollte einst die Landwirtschaft übernehmen, auf
die aber vorläufig noch sein Vater wartete. Bis jetzt
hielt der Grossvater mit seinen 70 Jahren den Hof und das
Regiment fest und sicher in seinen Händen. Er dachte
nicht ans Übergeben. Warum sollte er auch? Er war gesund
und erstaunlich rüstig. So musste sich der Sohn gedulden,
und erst recht der Enkel.
Und Karl
der Lehrer? So viel hatte das Lehrseminar in Bielitz gekostet!
Und jetzt bestand täglich die Gefahr, dass ihm der Bezirksschulinspektor
die Lehrerlaubnis entzieht, weil der Karl angeblich die Polnische
Sprache nicht gut beherrschte.
Die Katrin-God war, Gott sei dank, verheiratet und versorgt,
aber gesundheitlich stand es um sie nicht zum Besten. Und
die anderen Enkel, die weit von Hartfeld entfernt lebten?
Auch vor denen lag keine rosige Zukunft. Was half es, dass
sie ein Handwerk erlernt oder gar studiert hatten? Als Deutsche
fanden sie keine Arbeit, keine Stellung.
Für alle erhoffte und erwünschte die alte Frau vom
neuen Jahr Besseres. Alle hätten es notwendig.
Mit weit
geöffneten Augen, die alles Dunkel zu durchdringen versuchten,
und mit gefalteten Händen, die Gottes Beistand erflehten,
lag die Katrin-God regungslos da.
Das neue Jahr las alle Wünsche von den blauen Lippen
der alten Frau ab, die sich nur von Zeit zu Zeit lautlos und
kaum merklich bewegten, lächelte mitleidig und schüttelte
verneinend den Kopf. Die Katrin-God merkte es nicht. Und sie
merkte auch nichts, als das Lächeln und Mitleid in ein
hässliches Grinsen überging. Eine grosse Angst um
ihre Lieben erfüllte die ausgemergelte Gestalt. Die abgearbeiteten
Hände und die müden Füsse unter der Federdecke
erstarrten vor Kälte. Eine eisige Hand griff an ihr sorgenschweres
und geängstigtes Herz und presste es langsam zusammen,
langsam, langsam, langsam.
Aus der
fahlen Finsternis kroch ungeahntes Grauen. Aus allen Ecken
kam es heran, aus allen Winkeln schlich es näher, immer
näher. Überall dazwischen eine grinsende Fratze
mit kahlem Schädel und hohlen Augenhöhlen. Die alte
schwergeprüfte Katrin-God seufzte leise und blieb ruhig
liegen. Der Kahlschädel mit den entblössten Zähnen
blickte ihr tief in die Augen, nickte zufrieden und schlich
sich leise davon.
In der Ferne heulte ein Hund auf. Der langgezogene Laut, der
sich klagend in die gespenstisch-fahle Dunkelheit der Nacht
ergoss, weckte den alten Berens-Vetter. Fröstelnd zog
er sich die Federdecke über die frierenden Arme und Schultern
und murmelte: "Das bedeutet nichts Gutes! Gott steh uns
bei!"
Zu
finden im "Zeitweiser der Galiziendeutschen" 1971
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