Oberkirchenrat Prof. Mag. Johann Jakob Wolfer - Galizien |
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Kurzgeschichten aus Galizien von Pfarrer Jakob Wolfer
Viele
Wünsche
Am Morgen
erwachten die Hartfelder ausgeschlafen, für den neuen
Tag und das neue Jahr bereit. Ein bisschen früher als
sonst rieben sie sich den trägen Schlaf aus ihren Augen,
denn es galt, das Jahr 1938 zu begrüssen, das sich über
Nacht lautlos ins Dorf geschlichen hatte.
Kinder,
die sonst nicht wachzubekommen waren, sprangen eilig aus den
Federn und liefen im Hemdchen und barfuss zum Bett des Vaters,
um ihm ihr Sprüchlein aufzusagen. Anschliessend gleich
zur Mutter in die Küche, die, wie immer schon, früher
auf war, denn das gehörte sich so, dass die Kinder dem
Vater im Bett und der Mutter in der Küche ihre Neujahrswünsche
darbrachten.
Schon Tage vorher hatten sie ihre Sprüche fleissig gelernt,
ohne, dass sie jemand antreiben musste. Schliesslich war das
Lernen in diesem Fall wirklich nicht für die Schule,
sondern fürs Leben, und brachte ihnen das einzige Taschengeld
im ganzen Jahr ein. Und auf das Geld waren die Kleinen schon
so erpicht, wie sie es bei den Erwachsenen sahen und lernten.
Der kleine
Horst war ein besonders drolliger und geschäftstüchtiger
Knirps. Schon mit seinem neumodischen Namen viel er auf. Die
anderen Buben im Dorf hiessen ganz solid Johann oder Jakob
oder Gustav oder Karl oder Christian, so wie die Buben schon
seit Generationen in der Kirche getauft wurden. Er aber hiess
Horst. Einen solchen Namen hatte noch kein christlicher Vater
seinem Sohn gegeben, solange die Hartfelder zurückdenken
konnten, weder in Hartfeld, noch in den anderen deutschen
Kolonien im Umkreis von 50 Kilometern und mehr. Offen gestanden
war dieser Name aus Deutschland gekommen. Das wussten alle,
auch die Polen, die Herren des Landes. Solche Einflüsse
waren ihnen verdächtig.
Der rebellische Jakob-Bauer hatte seinen Sohen Horst genannt,
allen Warnungen zum Trotz. "Jetzt steht unser Dorf nicht
mehr lange!" hatten die Alten und Treuen prophezeit,
die an Sitte und Brauchtum, Tradition und Glauben festhielten.
Wie bald sollte diese Prophezeiung in Erfüllung gehen!
Die sie ausgesprochen hatten, wurden von ihrer Erfüllung
nur weinige Jahre später am meisten betroffen.
Der drollige Knirps mit dem neumodischen Namen Horst, der
aus dem Mutterlande gekommen war und das Ende von Hartfeld
angekündigt hatte, dieses kleine Kerlchen drückte
seinen Neujahrswunsch, den er bei den Eltern und Grosseltern,
den Nachbarn und auch den Fernsten anbrachte, besonders deutlich
mit seiner wirklichen Absicht aus, wenn er mit seiner hellen
Stimme, die nicht zu überhören war loslegte:
Ich wünsch´, ich wünsch´, ich wess net
was, greif in de Säckl un geb mer was.
"Des
werd emol b´stimmt e Parre!", stellten jedes Mal
aufs neue die Beglückwünschten und zum Geben aufgeforderten
schmunzelnd fest, wobei nur offen blieb, ob er wegen seiner
guten Stimme für diese Amt prädestiniert sei oder
wegen seiner Fähigkeit, den Leuten das Geld aus dem Beutel
zu locken. Beides war für einen Pfarrer in Hartfeld und
darüber hinaus wichtig und notwendig. Er brauchte eine
kräftige und weittragende Stimme, denn viele hörten
schlecht, vor allem, wenn es um den Geldbeutel ging. Und sollten
Pfarramt und Schule erhalten bleiben, musste der Pfarrer Seelsorger
und Geldsorger in einem sein. Das aber ist nicht leicht. Nicht
nur in Hartfeld, sondern überall und zu allen Zeiten,
wo der Seelsorger gleichzeitig auch Geldsorger sein muss.
Ob der besagte Horst wirklich ein Pfarrer wurde, weiss ich
nicht. Ich glaube nicht, denn er kam in eine sehr böse
Zeit hinein, in Umsiedlung und Krieg, in Flucht und Verfolgung.
Er liegt
wahrscheinlich neben einer Strasse, getroffen von Bombensplittern
und begraben am gleichen Ort, ohne Sarg und ohne Pfarrer,
nur mit einem Vaterunser, das der Grossvater mit fester Stimme
gesprochen hat, während seine weissen Haare im Winde
flatterten und die Frauen mit trockenen und weissen Augen,
die keine Tränen mehr hatten, und wie Gestalten aus Stein
um das Loch herumstanden, das dem drolligen Buben mit seinem
neumodischen Namen zur letzten Ruhestätte werden sollte.
Nur als die ersten Schollen auf den mit Zeitungspapier bedeckten
Kopf des Jungen fielen, schluchzte die Mutter wie ein weidwundes
Tier einmal ganz aus der Tiefe aus und knickte zusammen. Ihre
Knie versanken in Schneematsch und aufgeweichter Erde. Der
Grossvater legte den Spaten weg, mit dem er begonnen hatte,
seinen Enkel zuzudecken, damit er nicht in der Kälte
friere, hob die Tochter auf und führte sie zum Pferdewagen.
Er übergab sie der kranken Mutter, die man auf Heu gebettet
hatte, und ging zurück, sein hartes Werk am einzigen
Enkel zu vollenden. Die Zeit und Russen drängten.
Aber an
jenem 1. Jänner 1938 wusste Horst noch nicht, was auf
ihn wartete. Es ist gut so, dass wir das nicht wissen. Gott
ist gnädig, dass er es uns verbirgt, Menschen einander
in ihrer Bosheit alles antun werden.
Beim Neujahrswünschen war der kleine drollige Knirps
einer der Erfolgreichsten. Er brachte das meiste Geld und
in seinem Sack die meisten Äpfel, Nüsse und Kekse
heim. Sein Vater, der jetzt irgendwo in den Weiten Russlands
dem jüngsten Tag entgegenschläft, war damals stolz
auf seinen Sohn.
Nur beim Lehrer ging es dem kleinen Kerlchen schlecht mit
seinem Sprüchlein. Er hatte zwar seinen ganzen Mut zusammengenommen,
denn schliesslich ist ein Lehrer eine einmalige Respektperson,
und hatte gut begonnen:" Ich wünsch´..., ich
wünsch´..., ich wünsch´..." und
dann ging es nicht mehr weiter. Die Tränen erstickten
das letzte "Ich wünsch". Selbst das grösste
Unglück kann gut ausgehen. So nahm auch das Unglück
von Horst noch ein gutes Ende. So ein Lehrer weis doch alles
und so wusste auch der Hartfelder Lehrer die Fortsetzung dieses
Sprüchleins, half dem kleinen Knirps aus und gab ihm
sogar ein 50-Groschen-Stück, eine sagenhafte Gabe zu
einem solchen Anlass. Denn man muss bedenken, dass alle Kinder
zum Lehrer wünschen gingen. Und die waren in Hartfeld
zahlreich, das Gehalt der Lehrer aber war klein.
Zu
finden im "Zeitweiser der Galiziendeutschen" 1971
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